An einem kühlen Aprilabend klicke ich mich mal wieder durch Instagram und da poppte ein interessantes Event auf – Türmern in München. Das hörte sich spannend an und ich fing an zu recherchieren. Auf der Seite www.tuermer-muenchen.de wurde ich schnell fündig – es handelt sich um eine Performance der belgisch-australischen Choreografin Joanne Leighton. Vom 12.12.2020 bis 12.12.2021 sollten nach mittelalterlicher Tradition ein Türmer:in in einer Box auf dem Gasteig über die Stadt wachen.
Ein Türmer im Mittelalter hatte die Aufgabe, von einem hohen Turm aus, die Stadt vor nahenden Gefahren zu warnen. Seinerzeit galt dieser Beruf als „ehrlos“ trotz seiner großen Bedeutung für die Sicherheit der Bevölkerung. Noch immer gibt es Türmer/Türmerfamilien, die in den historischen Türmen leben und ihres Amtes walten.
Auf der Homepage gab es Termine, die zu einem bestimmten Zeitpunkt freigeschalten wurden. Ich hatte leider keinen bekommen, es waren alle vergeben. Dann versuchte ich es über die Warteliste.
Ich fuhr viele Male morgens um 06.30 an der Box vorbei und schaute immer auf die Türmer:in, die dort oben standen – wie gerne wäre ich auch dort. Vor vier Wochen bekam ich dann einen Anruf, man bräuchte mich als Türmerin und es kam eine schriftliche Einladung für eine Vorbereitungsworkshop. Es war die erste analoge Veranstaltung und etwa zwanzig zukünftige Türmer:innen kamen um daran teilzunehmen. In Laufe einer Stunde erfuhren wir etwas über die Konzeption der Performance und machten uns im wahrsten Sinne des Wortes locker. Nicht jedem fällt es leicht eine Stunde am Platz zu stehen.
Mein Termin war Sonntagmorgen 22.8 ab 6.19 Uhr für eine Stunde. Zwei Tage vorher bekam ich einen Anruf von Ingrid, die am Sonntag vor Ort auf mich wartete und mich auf den Turm brachte. Es war sehr früh 05.45 Uhr, dunkel, kalt und regnerisch. Eigentlich Schade dachte ich, hatte ich mir doch einen klaren Sommermorgen gewünscht. Ich musste mein Handy abgeben und ging in die Box. Nichts für Menschen mit Höhenangst – ich klebte förmlich an der Glasscheibe, den Abgrund vor Augen. Die ersten 10 Minuten vergingen zäh, ich hatte die Turmuhr des Müllerschen Volksbades vor Augen und der Zeiger bewegte sich langsam. Die Stadt trug in ein graues Kleid, sie war noch nicht bereit aufzuwachen. Vereinzelt kämpften sich Radfahrer durch den Regen den Berg hinauf, ein paar Tauben tummelten sich auf dem Boden und einige wenige Autofahrer erleuchteten den nassen Asphalt mit ihren Lichtern. Je länger ich auf die Stadt blickte, desto schärfer wurde meine Wahrnehmung. Ich entdeckte neue Dächer, leuchtende Uhren, spannende Fensterkonstruktionen, Hügel und Parks. Wie Kampfmaschinen, die aus einem Sciencefiction stammen könnten, wirkten die zahlreichen Kräne, die in der ganzen Stadt verteilt waren.
Es wurde heller, der Regen hörte auf und hinter der Wolkendecke wurden die Alpen sichtbar. Die markante Zugspitze kämpfte sich durch den morgendlichen Nebel und auch die Silhouetten einzelner Gebäude wurden immer schärfer. Die Nachtbeleuchtung wurde abgeschaltet und die Stadt legte langsam ihr graues Kleid ab. Um 7 Uhr läuteten das erste Mal die Glocken – fast zornig, laut, trotzig – als wollten sie alle Menschen aufwecken. Es war wie ein lauter Schrei, der die Stille der Nacht durchbrach. Es wurde langsam hell, die Wolkendecke öffnete sich und gab den Blick auf den blauen Himmel frei. Dadurch leuchteten die Bäume der Parks auf einmal in so wundervollen verschiedenen Grüntönen, ich entdeckte immer wieder neue und konnte mich gar nicht sattsehen. Die letzten Minuten vergingen wie im Fluge – es gab doch noch so viel zu entdecken. Doch die Zeit als Türmer:in dauert nur eine Stunde, dann ist die Stadt wieder auf sich selbst gestellt.
Es war ein wunderbares Erlebnis als Tümerin eine Stunde über die Stadt zu wachen und auch zu wissen, dass jeden Morgen und jeden Abend ein weiterer Türmer:in für ein Jahr dort oben in der Box steht. Am Ende der Performance werden wir die Künstlerin noch persönlich treffen und ich freue mich auf einen gemeinsamen Austausch mit ihr und den anderen Türmer:innen.